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arüber hinaus hat der Lamaismus viele weitere Meditationstechniken in Anlehnung an
tantrische Praktiken entwickelt, die verschiedene Hilfsmittel zum Einsatz bringen. Ganz zentral hierbei sind die bereits angesprochenen Mantras, mystische Sanskrit-Formeln bzw. –Silben.
Sie drücken in ihrem Klang das Wesen einer bestimmten Gottheit oder Macht und ihrer Eigenschaften aus und werden als eine Art lautliche Realisation von Gottheiten angesehen.
Mit ihrer Rezitierung vermag der Gläubige die in ihren Schwingungen enthaltenen magischen, heilswirksamen Kräfte in seinem Bewusstsein zu entfalten, um mit der Gottheit in Verbindung
zu treten und sie in der Meditation zu visualisieren, oder um etwa ihren Schutz zu erflehen. Das verbreitetste, immer wieder rezitierte Mantra des lamaistischen Kulturraums lautet, wie
allseits bekannt, „Om mani padme hum“, „Oh, Du Juwel in der Lotosblume“, das für sich einen eigenen Kult verkörpert.
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ür die Gläubigen ist es geradezu geheiligt, weil damit unmittelbar die wohl am meisten
verehrte mythische Verkörperung Buddhas angerufen wird, der Bodhisattva Tschenrezig, in Sanskrit ist er Avalokiteshvara, der Herr, der voll Mitgefühl und Erbarmen auf die Menschen
blickt. Die Tibeter nennen ihn deshalb auch den “Buddha des Mitgefühls”. Zusammen mit seiner weiblichen Manifestation Tara/Dölma gelten sie als die beiden großen Schutzpatrone
Tibets, deren Schutz sich die Menschen in Gefahren und Bedrängnis gerne anvertrauen.
ine ähnliche Funktion wie die Mantras nehmen die gleichfalls aus dem Tantrismus
entlehnten Mudras, magische, archetypische Gesten, d.h. Hand- und Fingerhaltungen ein. Sie dienen als Meditationshilfe dazu, um im Geist Vorstellungen zu beschwören, die göttliche
Kräfte oder die Gottheiten selbst symbolisieren. Bekannt sind sie auch aus der buddhistischen Ikonographie als die berühmten, mit einem ganz bestimmten Symbolgehalt verbundenen Handhaltungen Buddhas.
m Lamaismus treten zudem gleichfalls als Erbe des Tantrismus bildhafte, gemalte
Meditationsvorlagen wie Mandalas und Thangkas verstärkt in den Vordergrund. Mandalas stellen äußerst komplexe magische Diagramme dar, die in Kreisform den buddhistischen
Kosmos symbolisieren bzw. die Daseinssphäre bestimmter Gottheiten abbilden. In diesem
Zusammenhang erfahren auch die vom Bön adaptierten Meditationsgottheiten als sogn. “Yidams” eine deutliche Aufwertung in der religiösen Praxis. Unter dem Einfluss des
Tantrismus ist es für den Praktizierenden wesentliches Ziel der Meditation, sich mit seinem Yidam zu identifizieren und ihn in einem Mandala zu visualisieren. Im Himalaja-Raum hat sich zudem im
Laufe der Zeit eine hohe Kunst ausgebildet, anlässlich hoher buddhistischer Festtage in einem langwierigen, von Gebeten und Zeremonien begleiteten Prozess kunstvolle Sandmandalas zu
streuen, die dann gleichfalls als Meditationsgrundlage dienen. Nach den Festtagen werden diese in einem symbolischen Akt
wieder zerstört, denn im Buddhismus gilt, dass alle Dinge dieser Welt vergänglich sind, nichts ist von Bestand, auch die Mandalas nicht. Mehr für den alltäglichen Meditationsgebrauch
bestimmt sind dagegen die Thangkas, gleichfalls sehr kunstvoll gemalte, textile Rollbilder mit Darstellungen von verschiedenen Heiligen und Schutzgottheiten mit ihren Symbolen.
ie geistige Nähe des tibetischen Buddhismus zur phantastisch und schillernd anmutenden, mystisch- okkulten Glaubenswelt von Bön und Tantrismus findet
ihren Ausdruck schließlich in einer geradezu überwältigenden Farbigkeit und bildhaften Gestaltungskraft des Lamaismus. Überall in den Tempeln des Himalaja kann man die großartigen
Fresken in unterschiedlicher künstlerischer Reife bewundern. Wie in einer Flut von Farben erstrahlen von den Tempelwänden die lebendigen und eindringlichen Gestalten von Schutzgottheiten des
früheren Bön, wie die furchterregenden Bhairavas, oder von buddhistischen Heiligen und Schutzgottheiten, wie der mild lächelnden Tara. Mandalas und andere symbolhafte Darstellungen wie
das „Rad des Lebens“ gemahnen die buddhistischen Gläubigen in den Tempeln lebhaft und ausdrucksvoll an die Grundsätze ihres Glaubens. In diesem Sinne sind die Malereien nicht nur dekorative
Darstellung, sie haben darüber hinaus eine tiefe religiöse Bedeutung. Sie verbildlichen die im Zustand meditativer Schau visualisierten Gottheiten und sind damit der Schlüssel zu der
übersinnlichen Welt des Lamaismus.
as Zusammenspiel von bildhafter Bemalung und figürlicher Ausgestaltung, teilweise mit meisterlichen Großskulpturen, schemenhaft
beschienen im geheimnisvollen Dämmerlicht spärlicher Fenster, verleiht nicht wenigen dieser Tempel eine unmittelbar spürbare mystische Aura. Wer an einem solchen Platz schon einmal eine
morgendliche Puja erlebt hat, weiß wovon wir sprechen. Wenn sich der Raum füllt mit dem sonoren Gebetsgesang der Mönche und den durchdringenden Klängen tibetischer Tempelmusik.
“Musik” ist hier allerdings wohl der falsche Ausdruck. Mit westlicher Musikvorstellung und Harmonielehre hat dies nichts gemein. Lamaistische Tempelmusik kann man nur als reine
Magie begreifen, als Ritualmusik und Hilfestellung für die Mönche, um rascher und tiefer zur meditativen Versenkung zu gelangen. Wer sich als Besucher auf diese Atmosphäre innerlich
einlässt, für den ist die spirituelle Ausstrahlung dieser Tempel unmittelbar greifbar.
DER KULT DER TSCHAM-FESTE
ie nahezu exotische Farbigkeit und Ausdruckskraft des Lamaismus spiegelt sich nicht
zuletzt auch in der pittoresken Szenerie und der vielfach dramatischen Choreographie der vielen Klosterfeste, die im Himalaja-Raum stattfinden. Generelles Thema und Hintergrund der
Tscham-Feste ist, wie schon früher kurz angesprochen, der Sieg des Buddhismus in der Auseinandersetzung mit der Bön-Religion. Hierbei kommt dem Magier Padmasambhava als
Verkünder des Lamaismus und Überwinder des Bön eine zentrale Rolle zu. Kein Wunder, dass die Tscham-Feste bevorzugt von den Klöstern des Rotmützen Ordens gepflegt werden, ist er
doch der Gründer dieses Ordens. In einer Art Mysterienspiel interpretieren Mönche in Maskentänzen, getanzten Dramen und Pantomimen diese Auseinandersetzung mit dem Bön,
allegorisch auch verstanden als Kampf des Guten gegen das Böse. Gleichzeitig dient das Mysterienspiel der Unterweisung und Belehrung der Zuschauer im Sinne des Lamaismus, um
sie so zu einer bewussteren Religionsausübung und einem sittengemäßen Lebenswandel anzuleiten. Mit Himalaja-Folklore haben diese sakralen Tänze zweifellos nichts gemein.
Vielmehr sind sie lebendiger Kult, heilige Zeremonie und Schlüssel zur Religion und Geschichte des Landes. Wo Worte nicht ausreichen, um Gottheiten anzubeten, Dämonen auszutreiben
und spirituelle Botschaften zu verbreiten, wird im Lamaismus getanzt.
m Prinzip orientieren sich die Feiern in allen Klöstern des gesamten Himalaja an der gleichen Dramaturgie.
Gleichwohl gibt es mehr oder weniger große regionale Varianten, sowohl in den Darbietungen als auch in der Abfolge der auftretenden Akteure. Und natürlich fallen
die Tscham-Feste in den kleinen, abgelegenen Klöstern zwangsläufig bescheidener aus als die großen spektakulären, etwa in Hemis (Ladakh), Paro (Bhutan)
oder Theng Botsche (Nepal), was ihrem Zauber und ihrer Atmosphäre aber kaum Abbruch tun muss. Den Auftakt bildet im allgemeinen der Auftritt der
Schwarzhutmagier unter dem donnernden Klang der großen Hörner, die vor dem Beginn der Tänze alles Unheilvolle bannen sollen. Respekteinflößende „Mönchspolizisten“ mit Stöcken und
Pferdepeitschen sorgen für Ordnung und haben Mühe, den Enthusiasmus der Gläubigen im Zaume zu halten. Es folgt ein nicht selten grandioses Schauspiel voller Vitalität und durchaus
bedrückender Ausdruckskraft, bisweilen auch derber Fröhlichkeit, das seine Wirkung auf die Gläubigen, aber auch auf Touristen, nicht verfehlt.
ie Tänzer sind in farbenprächtige und kostbare, langwallende Seiden- und Brokatgewänder gehüllt. In den Händen halten
sie Ritualinsignien wie Dolch, Hackbeil, Donnerkeil oder Schädelschalen. Tanzschritte und Choreographie unterliegen präzisen Anweisungen, die den alten tantrisch-
buddhistischen Schriften entstammen. Den akustischen Rahmen bildet die durchdringende Tempelmusik, die sich je nach Tanzdarbietung wild und ungestüm, dann aber auch verhalten
und getragen gebärdet. Das Programm ist dicht gedrängt und die Tänzer agieren fast pausenlos. Den Gläubigen begegnen dabei alle guten und furchterregenden Gottheiten, alle freundlichen
und finsteren Dämonen ihrer Glaubenswelt. Grimmig maskierte Schutzgottheiten und Hüter der buddhistischen Lehre tanzen im
Ritualschritt über den Klosterhof, gefolgt von Geistern mit magischen Spiegeln als Schutzschild vor Dämonen. Makaber der Auftritt der „Herren des Leichenackers“ mit ihren
Skelettgewändern, die an die Vergänglichkeit alles Irdischen erinnern und den Weg der Läuterung durch das Totenreich des Bardo weisen.
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